
Wann ist eine Geschichte eigentlich interessant? Wann fängt es an, dass das Erzählte, fesselnd, spannend oder absurd wird? Wahrscheinlich genau in dem Moment, in dem du dir denkst… WTF?? Im Lauf des letzten Jahrzehnts haben wir viele eloquente Gesprächspartner kennengelernt. Menschen, die eine Menge erlebt haben und dies gut ausgeschmückt, zu wahren Legenden geformt hatten. Da wird dann gerne mal dramatisch das ein oder andere dazu gedichtet. Du kennst sie auch, die Märchenonkel, die aus einem halben Meter Welle, die sie irgendwo mal gesurft sind, Wellen wie Mavericks oder Nazare zu Minigeschwabbel deklassieren.
Und dann gibt es die anderen. Diejenigen, die nicht viele Worte machen. Doch erst bei genauerem Hinhören erfasst man das Gesagte und kriegt den Mund nicht mehr zu. Das Sprichwort „Stille Wasser sind tief“ trifft es am besten. Einer dieser „stillen Wasser” ist Abraham Paskowitz. 2013 trafen wir ihn auf der Sportmesse „ISPO“ in München, das erste Mal. Zu diesem Zeitpunkt war er Verkaufsleiter einer Surfskatemarke. Neben dem damals noch als exotisch angesehenen Sportgerät, hatte er immer passende bunte Hawaii-Hemden an. Als Hawaiianer darf man dies auch im kalten Winter der bayerischen Hauptstadt.
Wir kamen ins Gespräch, sprachen über das Leben, Schulbildung, Jugend, und natürlich das Surfen. Wer die Amis kennt, der weiß, dass alles immer irgendwie „awesome“ ist. Oberflächlichkeit scheint sich dort als die Attitüde schlechthin manifestiert zu haben. Abraham unterschied sich anfänglich nicht sonderlich davon. Doch im Laufe der „ISPO“ haute er einen versteckten Hinweis nach dem anderen heraus. Er erzählte von seiner Jugend. Und da war sie, die Story, auf die man als Journalist meist vergebens wartet. Wenn dir jemand erzählt, es wurde ein Kinofilm über seine Jugend gedreht, dann ist es nicht so schwer, diese Story weiter zu erzählen.

Drei Sätze braucht es und du hast diesen „Aha – Effekt“ und willst wissen, wie es weitergeht.
- Abraham ist in einem Camper aufgewachsen. Ok – semi-interessant
- Er hatte 8 Geschwister, die ALLE in dem Camper aufgewachsen sind. Zusammen! Es wird interessanter…
- Die Eltern hatten nie einen wirklichen Job und er und seine Geschwister waren nie auf einer Schule – und doch sind sie zum Teil Promis geworden. Ok – got you…
Der Arzt Dorian Paskowitz
Anfang der 50er Jahre zog ein Arzt namens Dorian Paskowitz nach Hawaii, um zu praktizieren. Der Dreißigjährige heiratete das zweite Mal und zeugte zwei Töchter. Dann begann er zu surfen und sein Leben veränderte sich von heute auf morgen. Er fühlte sich gefangen in seinem Leben, wollte ausbrechen und nur noch surfen. Depressionen und Schlaflosigkeit waren die Folge seine domestizierten Daseins.
So entschied er, Frau und Kinder zu verlassen und nach Israel zu gehen, um dort ein Sabbatjahr einzulegen. Nachdem er die zwölf Monate hinter sich gebracht hatte, entschloss er sich, in Israel zu bleiben. Bei der israelischen Armee fiel er durch den Aufnahmetest. Doch Israel ist schön und so traf er die Entscheidung, dort ein Leben zu führen, das ihn von allen gesellschaftlichen Zwängen befreite. Er lebte nur von Surf, Fisch, Reis und Wasser. Rückblickend bezeichnet Dorian dies als die glücklichste Zeit seines Lebens. Noch heute ist er in Israel dafür bekannt, das Wellenreiten ins Land gebracht zu haben.
Als er in die USA zurückkehrte, hatte er einen Plan. Surfen und mit hundert Frauen schlafen, um herausfinden, welche die Beste für ihn ist. Klingt komisch für die damalige Zeit. Eigentlich auch für die Heutige.
Er hatte sogar ein Notizbuch, in das er in einer Art Bewertungsskala seine Bekanntschaften katalogisierte. Es sollten keine hundert Frauen werden. Dorian lernte Juliette kennen, die eine Punktzahl von 93 erreichte. Was genau in die Wertung einfloss, ist nicht bekannt. Fakt ist, dass sie sich verliebten, das erste Kind zeugten und heirateten. Kinderzimmer? Fehlanzeige! Sein alter Studebaker sollte für einige Zeit das Heim der kleinen Familie bleiben. Es dauerte nicht lange und Kind Nummer zwei folgte.
Der legendäre acht Meter Camper wurde gekauft, als das dritte Kind unterwegs war. Weitere sechs folgten. Sie wuchsen gemeinsam in einem alten Wohnmobil auf. Abraham erzählte mir, dass es die schönste Kindheit war, die man sich vorstellen kann. Und es war gleichzeitig die schlimmste Kindheit, die man sich vorstellen kann.

„Surfen war unser Klettergerüst als Kinder. Das war unsere Bowlingbahn, unser Baseballfeld, unser Schultanz, was auch immer.“ Das mit dem Surfen war einfach. Die Paskowitz-Kinder widersprachen nicht, als von ihnen erwartet wurde, jeden Tag hinaus zu paddeln, anstatt zur Schule zu gehen. Aber es war nicht nur das Surfen – Doc zwang seinen Kindern seinen gesamten, weitgehend exzentrischen Lebensstil auf. Und das kam nicht immer so gut an. Es war nicht immer eine Mischung aus The Endless Summer und den Waltons. Zunächst einmal wurde den neun Kindern das Leben eines Nomaden aufgezwungen, ohne dass sie es sich ausgesucht hatten. Sie hatten Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen, da sie so oft umzogen, sie kannten nie das beruhigende Gefühl einer „Heimatstadt“, und sie wurden zu Hause unterrichtet. Da sie nie in der Schule waren, lernte der Jüngere vom Älteren oder Mutter und Vater hielten morgens eine Art Unterricht. Ihr Tagesablauf bestand aus morgendlicher Gymnastik, ein wenig Unterricht und viel Surfen.
Auf die Aussage, dass es gefährlich sei, im mit Haien verseuchten Pazifik zu schwimmen und zu surfen, antwortet Dorian: „Der Schulweg ist viel gefährlicher.“
Das Verhältnis zu materiellen Besitztümern wurde geprägt vom asketischen Lebensstil und dem Wellenreiten. Einmal rief der „Doc“ seine Kinder zusammen und präsentierte ihnen die letzen 25 Cent der Familienkasse. „Das ist unser letztes Geld und ich freue mich auf das Abenteuer.”

Genauer betrachtet waren die Paskowitz´s ihrer Zeit 50 Jahre voraus. Sie waren die ersten Influencer, Surf-Nomaden und sie ernährten sich sehr gesund. Zucker war verpönt. Einmal kauften sich die Kids heimlich Schokolade. Um ihnen zu zeigen, was Zucker anrichtete, aß Dorian den gesamten Schokoladenvorrat der Kids. Ein Zuckerschock war die Folge und prägte die Kinder. Die Eltern hatten ein recht freizügiges Sexleben, das sich in beinahe jeder Nacht wiederholte. Navah, die einzige Tochter war natürlich weniger begeistert, denn ihre acht Paskowitz-Brüder David, Jonathan, Abraham, Israel, Moses, Adam, Salvador und Joshua feixten darüber.
Um ein wenig Bargeldreserven zu haben, gaben sie Surfkurse oder Dorian arbeitete ein paar Tage im Krankenhaus.
Sie reisten die Pazifikküste rauf und runter und schafften es sogar einmal an die Ostküste. Ganz gleich, wo auf der Welt sie sich aufhielten, Doc Paskowitz und seine Kinder waren immer begeisterte Surfer. Für die Paskowitz-Kinder war das Surfen der gemeinsame Spieleabend, die Zeichentrickfilme am Samstagmorgen, die Geschichten vor dem Schlafengehen – es war der rote Faden, der ihr ungewöhnliches Leben zusammenhielt.
Ambivalent sehen die jetzt in ihren 50er und 60er Jahren befindlichen Familienmitglieder, Doc ́s Idee, dass man durch das Leben mehr lernt, als durch die konventionellen Bildungssysteme. „Als ich zum College wollte, fragten sie mich, wo denn mein Schulzeugnis sei. Erst da ist mir aufgegangen, was ich versäumt habe”, erzählte mir Abe. Navah sprach davon, dass sie gut auf das Leben vorbereitet gewesen seien, denn sie verfügten über eine außerordentlich gute Menschenkenntnis. Doch es gab auch andere Probleme. Der Umgang mit Geld, monatliche Mietzahlungen oder Beziehungen.
Alles war geprägt von dem, was sie in der Jugend kennen und schätzen gelernt hatten. Dem Familiensinn. Denn wenn die Familie zusammenhielt, war alles gut. Doch die Kinder wurden früh flügge. Und sie wurden erfolgreich – auf ihre Weise. Beinahe jeder gewann irgendeine Surfmeisterschaft, Navrah Paskowitz wurde Fotomodel, Abraham, mittlerweile bei Hamboard, ein Marketing Spezialist. Bemerkenswert ist Joshua´s Vita, der einen Top Ten Hit landete und ein begnadeter Maler ist.

Moses sagt dazu: „Keiner von uns sitzt im Gefängnis, keiner von uns ist heroinabhängig, keiner von uns ist mittellos. Wir mögen alle Probleme haben, aber was wir aus Dorians Plan mitgenommen haben, war dieses große Wissen. Er gab seinen Kindern die Mittel, um selbst zu überleben. Ein Paskowitz wird überall auf der Welt überleben. “Wir sind so großartige Chamäleons; wir passen uns unserer Umgebung an, egal was passiert.“
Und einige der Kinder führen sogar Docs nomadisches Van-Life-Erbe fort. Jeden Freitag parkt Abraham in San Onofre und arbeitet zwischen den Surf-Sessions in seinem Sprinter-Van. Und dann ist da noch Adam – Sohn Nummer sechs – der den Lebensstil seines Vaters voll und ganz übernommen hat.
„Ich habe die Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin, geliebt“, sagt Adam. „Ich habe nie negativ darauf zurückgeblickt und ich wollte es auch nie anders haben. Deshalb erziehe ich auch meine Kinder auf dieselbe Weise. Meine Frau Tracey und ich wussten immer, dass wir unsere Familie so erziehen würden, wie ich erzogen wurde. Es ist eine unglaubliche Erfahrung, die gleichen Werte und Lebenslektionen mit unseren Kindern zu teilen.“

Doc Paskowitz hatte nie seinen Humor verloren. Als er 2013 interviewt wurde, fragte man ihn, was er noch alles vorhatte. „Junger Mann, ich bin nun 92 Jahre alt. Was soll ich noch vorhaben? Ich schnappe mir mein Surfboard, paddel raus und suche mir einen Hai, der mich frisst” Einen Hai fand er nie. Doc Paskowitz starb im reifen Alter von 93 Jahren nach einem Sturz. Er war bis dahin kerngesund und hat es zeitlebens abgelehnt Medikamente zu nehmen. Seine geliebte Juliette starb im Frühjahr dieses Jahres.
Obwohl Doc in vielerlei Hinsicht in Erinnerung bleiben wird – als Surfer, als Gesundheitsguru, als Arzt, als Pionier des Surfens in Israel, als Urvater des Van Life, als Don Quijote des Surfens, als Freigeist, Vagabund, Radikaler, Exzentriker – wird sein dauerhaftestes Vermächtnis immer seine Familie sein. Inmitten eines Lebens voller Eroberungen war Docs Familie letztlich seine größte.
„Es ist mir egal, ob ich ein großer Arzt, ein reicher Mensch oder eine Berühmtheit bin“, sagte Doc. „Ich will einfach nur ein guter Ehemann und ein guter Vater sein – also ein guter Mensch.“
Und trotz kleinerer Rückschläge, weil Doc Paskowitz ihnen seinen Lebensstil aufgedrängt hat – man könnte es auch als Teenager-Rebellion bezeichnen – blicken alle seine Kinder mit Wohlwollen auf ihre Erziehung zurück. Nachdem die Kinder den Van verlassen hatten, hielt Doc die Reise tatsächlich am Leben. Er lebte noch bis weit in seine 80er Jahre hinein auf der Straße. Aber nicht einmal Doc Paskowitz konnte die Ewigkeit auf der Straße verbringen.
